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23. AUGUST 2021 MEHR ALS OKAY: DIE OLYMPISCHEN SPIELE VON TOKIO - EINE BILANZ

Die Olympischen Spiele von Tokio sind Geschichte. Erleichterung bei den Verantwortlichen (damit sind die gemeint, die wirklich zum Gefühl »Verantwortung« fähig sind): Die Spiele sind »sicher« gewesen. Die Athleten haben Großes geleistet. Faszinierende Bilder wurden in die Welt geschickt. Oft war es »großes Kino«, oft war es großer Sport.

Adi Dassler liebte die Olympischen Spiele, dieses Fest der Jugend. Diese Veranstaltung, bei der Leistung und Fairness zählen. Die Sportler vor allem hat er respektiert, wenn sie sich an die Regeln gehalten haben – und wenn es nicht mehr ums Geld, sondern um andere Werte geht.

Dassler war nicht der Mann der vielen Wörter. Er konnte seine Philosophie in markante Merksätze packen.

Hier sieben Regeln des Adi Dassler – und die passenden Geschichten aus Tokio 2021:

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»Alle sollen sich als Mitglieder der Familie fühlen.«


Thomas Bach, 67, ist seit acht Jahren der Präsident des Internationalen Olympischen Komitees (IOK) und damit der mächtigste Sportfunktionär der Welt. Als er antrat, sagte er: «Wir alle sind eine große Familie. Meine Tür, meine Ohren und mein Herz sind immer offen.«

Aber was ist seither passiert?

Die Spiele sind zu einer seltsamen geschlossenen Veranstaltung mutiert. Für die Athleten gibt es nach wie vor nichts Größeres, als bei Olympia zu reüssieren. Vier Jahre (wegen der Corona-Verschiebung sind es diesmal fünf) schinden sich Frauen und Männer, weil sie beim »Fest der Jugend der Welt« auftreten wollen. Wundervolle Athletinnen und Athleten sind sie:

Die Turnerin Simone Biles, die als Superstar anreist, in der leeren Halle merkt, dass all das zu viel ist für sie. Und die dann zu ihrer »Schwäche« steht.

Die Synchron-Wassernixen, die auch dann noch lächeln, wenn die Sauerstoffnot weh tut.

Die vielen Vierten, denen nur ein paar lächerliche Hundertstel, Zentimeterchen oder Gramm fehlen.

Die fairen Sieger und die fairen Verlierer.

Die, für die das Dabei-Sein alles ist.

Sie sagen nach den Spielen unisono, sie seien froh über Olympia in Japan gewesen.

Aber eine große Familie?

Davon haben sie nicht viel gespürt.

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»Nur durch Probieren kann das Richtige entstehen«


Hochsprung der Männer. Es gibt ein Problem: Noch zwei Athleten sind im Wettbewerb, haben dreimal die Latte in einer Höhe von 2,39 Metern gerissen. Bislang hatten der Italiener Gianmarco Tamberi und Mutaz Essa Barshim aus Katar keinen Fehlversuch, sie sind gleichauf.

Was tun?

Die Athleten diskutieren mit dem federführenden Kampfrichter, dem ist augenscheinlich nicht recht wohl. Der Italiener gestikuliert und lamentiert verzweifelt, der Mann aus Katar ist eher kommunikativ und kampfbereit.

»And if?«, fragt er den Kampfrichter.

»What?«, fragt der Kampfrichter zurück. Was der Springer meine.

»If we get two gold?«, radebrecht der Katari.

Der Kampfrichter ist baff. Aber nicht lang. Er sieht die Kontrahenten an, mit der unausgesprochenen Frage, ob das ihr Ernst sei. Geteiltes Gold?

Sie nicken.

Er nickt. Warum nicht zwei Sieger? Mal was Neues.

Der Mann aus Katar rennt zu seinen Leuten in der ersten Reihe und heult, bis die Sonnenbrille überläuft.

Der Italiener – so ein Macho-Womanizer mit Pferdeschwanz und Glutaugen – schafft es nicht weit. Er bricht nach zwei drei Freudensprüngen an der Tartanbahn zusammen und weint und lacht und schreit, dass man es bis Civitanova Marche (da ist er zur Welt gekommen) hört. »Ciao, Mama, ti amo, non credo questo, non è possibile. Mamma! Mamma! Ciao.«

Es ist einer dieser großen Momente der olympischen Historie – der irische Journalist Gavan Reilly bringt es bei Twitter mit dem Ausdruck »die wahre Essenz des Sports« auf einen Nenner.

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»Arbeite so, dass Du auf das Ergebnis stolz sein kannst!«


Wasserspringer Martin Wolfram ist bei Olympia Siebter geworden. Eine Fernsehreporterin hält ihm ein Mikro vors Gesicht.

Doch noch bevor er ein einziges Wort sagen kann, schießen ihm die Tränen in die Augen. »Ich bin superglücklich. Ich bin superstolz, dass ich heute hier stehen durfte«, sagt der 29-Jährige, dann bleibt die Stimme wieder weg.

»Der Weg hierhin war so schwer. Es ist einfach großartig«, presst der Wasserspringer unter Tränen heraus, bevor er die Antwort abbricht. »Entschuldigung«, sagt er.

Entschuldigung? Warum denn, bitteschön? Wir sagen »dankeschön«. Weil er alles gegeben hat, weil er sich durchgekämpft hat.

Siebter?

Quatsch! Er ist ein Sieger.

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»Vormachen - nicht nachmachen! Vor allem: machen!«


Alexander Zverev gewinnt gegen den Russen Karen Chatschanow das Tennisfinale mit 6:3. 6:1.

Nach dem Sieg ist er ein glücklicher Mann. Artig sagt er seine Sprüchlein auf.

»Deutschland wird immer mein Zuhause sein, meine Herkunft ist sehr wichtig für mich. Ich bin in Hamburg aufgewachsen, und wann immer ich die Möglichkeit habe, nach Deutschland zu kommen und hier ein Turnier zu spielen, fühlt es sich an, wie nach Hause zu kommen.«

»Olympia ist das größte Sportereignis, das es auf der Welt gibt. Ich denke, die Tennisspieler, die noch nie bei Olympia waren und sagen: 'Olympia ist nicht wichtig', müssen einmal zu Olympia fahren. Dann werden sie es anders sehen.«

»Ich kann das hier in Tokio mit nichts vergleichen, was Größeres kann man im Sport nicht erreichen.«

»Ich habe ein goldenes Ding um den Hals - und das ist nicht eine der 50 Ketten, die ich sonst trage. Das ist das echteste Gold, das man sich wünschen kann.«

Und warum hat er Gold am Hals? Er hat sich nicht beirren lassen. Er hat stattdessen sein »Ding gemacht«.

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»Gib dich mit dem Erreichten nicht zufrieden! Und gib nicht auf!«


Diskuswurf der Frauen.

Es gießt, urplötzlich, aus Eimern. Der Wurfring wird unbetretbar. Drei Sportlerinnen scheitern bei ihren Versuchen. Ihnen rutscht die Scheibe aus der Hand, eine schliddert bei der Drehung und landet auf dem Hintern.

Der Wettbewerb wird unterbrochen.

Nach dem großen Regen frottieren Helfer den Beton im Ring, man kann dort wieder Sport treiben – aber die Athletinnen sind aus dem Konzept.

Außer Kristin Pudenz. Die ist happy, weil sie es ins Finale der besten Acht geschafft hat. Jetzt darf sie werfen. Also wird sie die Scheibe schmeißen – so weit sie kann. Und sie wird es genießen.

Später rekapituliert sie: »Ich habe versucht ruhig zu bleiben und die Pause zum Runterkommen zu nutzen.« Sie hat sich einen Snack besorgt, ist »runter gekommen«. Danach war das Motto: »Alles oder nichts.«

Kristin schafft im fünften Versuch persönliche Bestleistung. 66,86 Meter. Zweiter Platz.

Nicht aufgegeben. Alles gegeben. Ein großes Glück fürs Leben gewonnen.

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»Schaue über den Tellerrand hinaus«


Japan ist bedrückt. Nur weil sie so höflich sind, dulden die Menschen in der Pandemie-Zeit diese Milliarden-»Spiele«. Sie werden die Sportler mit Respekt behandeln. Vielleicht bringt Olympia auch etwas Gutes.

Dann beginnen die Wettbewerbe.

Und ein paar Tage später ist Japan…

…beglückt. Judoka Naohisa Takato holt Japans erstes Gold in Tokio, tags drauf ist er der Held der Nation. »Die Menschen waren bewegt, die Tränen eines Mannes nach dem Wettkampf zu sehen«, tremoliert Regierungschef Suga.

Und der erste Gold-Held fügt sich brav der Linie der Organisatoren. »Ich kann im Moment wirklich nichts denken, aber ich bin sehr dankbar, dass die Olympischen Spiele in Tokio stattfinden konnten.«

Japans goldener Start in seine Problemspiele verschafft den Olympia-Machern von Tokio eine Atempause. Nach Monaten der Ängste und Skandale sind die Jubelmeldungen aus dem Kampfsportzentrum Nippon Budokan und dem hippen Skateboard-Park Seelenbalsam für das IOC und die Organisatoren.

Am Ende des ersten Wochenendes holt Japan sogar noch Doppel-Gold durch die Judo-Geschwister Uta und Hifumi Abe und ist hinter China Zweiter im Medaillenspiegel. Die Einschaltquoten und die Klickzahlen im Internet schießen nach oben.

Da widerfährt den Spielen ein großes Glück: Es regiert der Sport.

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»Beobachte! Schau nach vorn!«


Yuto Horigome ist schon »berühmt« – in Japan und auch anderswo. 22 Jahre »alt« und irgendwie so gar nicht flippig. Die »Zeit« beobachtet: »Er trägt keine Kopfhörer. Er trägt auch keine Baseballmütze. Der 22-jährige Japaner gewinnt auch so die erste olympische Goldmedaille der Skateboard-Geschichte. Er steht damit sinnbildlich für die Entwicklung der Sportart, die so lange gar keine Sportart sein wollte. Aus Außenseitern wurden Hochleistungssportler.«

Yuto ist mal von der kanadischen Skateboard-Legende TJ Rogers zum »Brettern« eingeladen worden. Rogers erinnert sich: »Der Typ ist echt cool. Man trifft sich morgens, redet ein bisschen über Tee oder Kaffee, er isst sein Marmeladenbrot – und dann kannst Du Dich mit ihm nur noch übers Boarden unterhalten. Der ist besessen.«

Rogers vermittelte dem Kumpel ein Interview bei einem der bekanntesten Fachmagazine der Welt. Der Journalist kam und hatte viele kluge Fragen. Man redete zwei Stunden. Hier die Schlüssel-Passagen:

Wo bist Du aufgewachsen?

»In Tokio, 13 Kilometer von der olympischen Wettkampfstätte entfernt.«

Wie war die Kindheit?

»Nix Besonderes. Ein paar Freunde, ein bisschen Schule, kein Englisch.«

Aber jetzt sprichst Du Englisch.

»Hat mir mein Papa beigebracht. Später bin ich online zur Schule gegangen.«

Später: Das heißt?

»Mein Vater war Taxifahrer – und in der freien Zeit ein Boarder. Er hat mich mitgenommen und gesehen, dass ich ein Guter werden kann.«

Jetzt bist Du oft auf Reisen. Heimweh?

»Ja.«

Was machste dann?

»Skypen.«

Was fehlt Dir am meisten?

»Das Essen. Ihr kocht nicht so toll. Und wenn es ganz schlimm ist mit dem Heimweh, guck‘ ich einen Film.«

Was für Filme?

»Karate. Action. Skateboard. Surfen. So Sachen.«

Cool. Ist interessant. Und was tust Du jetzt, nach dem Interview.

»Nachdenken.«

Nachdenken?

»Ich denk‘ immer nach.«

Worüber zum Beispiel?

»Naja, meistens die gleiche Sache. Wie ich besser werde. Und was ich noch für Tricks mit dem Board erfinden kann.«

Das sind die Sportler, die auf eine Zukunft hoffen lassen, in der die gleichen Werte gelebt werden, für die schon Adi Dassler eingestanden ist.

Das sind die Sportler, die letztendlich alle des Feldes verweisen, die nicht dahin gehören.

Und wegen dieser Sportler sind die Spiele von Tokio in schweren Zeiten mehr als okay gewesen.


Autor: Detlef Vetten