25. JUNI 2021 DAS ALTE SPIEL - DEUTSCHLAND MÜHT SICH BEI DER EM IN DIE NÄCHSTE RUNDE
In der Nacht vom 23. auf den 24. Juni 2021 stand ein fast perfekter Vollmond über Herzogenaurach. Adi Dassler hatte das vollkommene Licht. Kleine Schatten im kantigen Gesicht, Silber-Spots im welligen Haar. Die Stollen des Fußballschuhs in der Linken des Mannes schimmerten.
Josef Tabachnyk, der den Adi Dassler aus Bronze geschaffen hat, kann stolz sein: Bei Vollmond ist die Skulptur, die seit 2006 am Headquarter von adidas sitzt, voller Leben.
So ist er gewesen, der Gründer von adidas. Lässig, konzentriert, den Blick aufs Spielfeld gerichtet, in der Hand einen Schuh, der immer noch besser werden sollte.
Die Nacht vom 23. auf den 24. Juni 2021 freilich ist eine besondere gewesen.
In München spielte bei der Europameisterschaft im letzten Treffen der Vorrunde Deutschland gegen Ungarn. Ein Treffen dieser beiden Teams hat es bei internationalen Turnieren seit Generationen nicht mehr gegeben. Bei den letzten Begegnungen saß noch der leibhaftige Adi Dassler auf der deutschen Bank und drehte den Akteuren die passenden Stollen in die Schuhe.
Adi Dassler und Sepp Herberger beim Aufstollen, 1954
Erstes Aufeinandertreffen der Fußballmacht Ungarn und der Deutschen am 20. Juni 1954 – ein Debakel für die Mannschaft von Trainer Sepp Herberger. Sie ging mit 3:8 Toren unter. Für die nächste Runde hat sie sich damals doch qualifiziert. Uff!
Jetzt, 2021, waren die Deutschen die Favoriten. In München, wo gespielt worden ist, ging während des Matchs die Welt beinahe unter. Wütender Starkregen und brüllende Gewitter über der Allianz Arena. Die Ungarn kämpften und rannten, sie fegten die Deutschen fast aus dem Turnier. Nur mit viel Glück und einem qualvollen 2:2 krochen die Spieler von Trainer Joachim Löw in die nächste Runde. Uff!
Jetzt ist die Aufregung im Lande groß. Wie werden »wir« uns im Achtelfinale gegen die Engländer bewähren? Gibt es eine »Blamage«? Dürfen »wir» jubeln? Geht die Welt unter, dreht sie sich weiter? Wie können wir Europameister werden?
In Herzogenaurach sitzt – tagein, tagaus – einer der »Väter« des deutschen »Fußball-Wunders« vor dem adidas Headquarter des Unternehmens, das er erfunden hat, und ist unbeeindruckt. Adi Dassler hat alles erlebt: das Glück und das Trauern. Den Jubel und das Verstummen der Fans. Tore, Pfostenschüsse, Rohrkrepierer. Fair und Foul. Sieg. Niederlage. Triumph. Tränen. Er hat dieses Spiel geliebt, in dem alles möglich ist und keiner das Drehbuch schreibt.
Wie das Match ausgeht, weiß vorher niemand. Aber wer das Spiel gewinnen will, muss sein Bestes geben. Das war Dasslers Credo. Er war der »Schuster der Nation«, wenn er seine Aufgabe im Team nicht perfekt machte, würden die Kicker aus den Latschen gekippt werden.
Und so hat er sein Ding gemacht, der Adi Dassler aus Herzogenaurach. Unbeirrt, gezählt hat für ihn nur der gute Job.
Deutschland hat sein Wirtschaftswunder erlebt. Der kalte Krieg hat Europa in Angst gehalten. Es gab einen Eisernen Vorhang und eine Mauer – der Vorhang ging in Fetzen, die Mauer zerbröselte. Fußballspieler wurden zu Popstars. Europa- und Weltmeisterschaften sind ein Milliardenbusiness. Computer eroberten die Menschen, der Globus redet übers Smartphone mit sich. Künstliche Intelligenz lauert hinter jeder Ecke. Eine Pandemie hat die Erde mal schnell ein Jahr lang lahm gelegt.
Aber am 23. Juni 2021 war es die alte gute Geschichte. 22 junge Männer, 44 Füße. Jeder Fuß in einem Schuh mit Stollen. Ein Ball. 90 Minuten.
Das hätte den Adi gefreut.
Übrigens: Das Turnier 1954 haben die Deutschen gewonnen. Als sie auf dem Rasen den WM-Titel feierten - im strömenden Regen - stand Adi Dassler dabei und lächelte leise. Diesem frohen Adi Dassler von damals sah der Bronze-Mann im Vollmond-Herzogenaurach des 23. Juni 2021 verdammt ähnlich.
Autor: Detlef Vetten